In dieser Kategorie befindet sich die Sammlung der Impulsvideos …

Impuls zum Osterfest: Liebe, Vergebung, Essen

„Ich liebe dich!“ „Ich vergebe dir!“ „Das Essen ist fertig!“

Eine amerikanische Zeitschrift bat ihre Leser*innen, den Satz einzusenden, den sie am liebsten hörten, am meisten brauchten und am tröstlichsten fanden. Tausende schickten ihre Sätze und ganz oben auf der Liste standen die drei oben genannten Aussagen. Diese Sätze spiegeln die absolute Notwendigkeit von uns Menschen wider, geliebt zu werden und Vergebung zu erlangen. Das, was viele Menschen auch am Lebensende zum Ausdruck bringen. Wir wundern uns vielleicht, dass eine so banal erscheinende Tatsache wie „Das Essen ist fertig!“ so weit oben rangiert, wenn es darum geht, was uns tröstet. Ethnologisch betrachtet bestärken wir uns beim gemeinsamen Essen in unserer Identität und erinnern einander an unsere Zugehörigkeit zur Familie, zum Freundeskreis. Die Wörter „Compagnon“, „Kumpane“ und „Kumpel“ kommen vom lateinischen cum (mit) und panis (Brot) – bezeichnen also jemanden, mit dem wir das Brot teilen.

Es ist nicht leicht, die Evangelien im Neuen Testament zu lesen ohne Hunger zu bekommen. Die Bibel erzählt wiederholt von Gesprächen, die bewegend waren und ein Leben verändert haben – und die offenbar bei einem gemeinsamen Mahl geführt wurden.

Denken wir an den Gründonnerstag – das Letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern. Keinen Vortragssaal hat sich Jesus ausgesucht, um seinen Jüngern sein „Testament“ mitzugeben, sondern einen Speisesaal. Es wird keine Auflistung von erlesenen Speisen überliefert, sondern die Worte, die Jesus gesprochen hat und dass sie Brot miteinander teilten. Im Johannes-Evangelium sagt Jesus beim Letzten Abendmahl: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ Jesus bringt beim gemeinsamen Essen zum Ausdruck, wie gern er seine Freunde hat. Ein Mahl kann also sogar zum Ort werden, wo der wichtigste Satz genannt wird: „Ich liebe dich!“

In diesen Tagen hören wir das Evangelium der „Emmausjünger“. Erst als Jesus mit ihnen am Tisch sitzt und das Brot mit ihnen teilt, entsteht eine so große Nähe, dass sie den Auferstandenen erkennen. Oder denken wir an die Erzählung aus Johannes 21, als der Auferstandene den Jüngern am See erscheint und sie auffordert „Kommt und esst!“ Er gibt ihnen Brot und Fisch und sie erkennen ihren Meister. Als sie gegessen haben, sagt Jesus zu Simon Petrus: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? Er antwortete ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Lämmer!“ Wieder geht es um die Liebe. So eng liegen die scheinbar banalste Sache der Welt­– nämlich das Essen – und die wichtigste Sache der Welt – die Liebe – beieinander!

Wenn wir das auf unseren Alltag umlegen, so heißt es, dass es nicht Lachs und Kaviar braucht, um miteinander ein Mahl zu essen, das in Erinnerung bleibt. Was zählt ist, dass wir einander beim gemeinsamen Essen näherkommen, dass wir Gemeinschaft erleben und „genährt“ an Leib und Seele werden.

„Ich hätte viel öfter „Ich liebe dich!“ sagen sollen“, bekennen Sterbende am Ende ihres Lebens. Nützen wir die gemeinsamen Mahlzeiten rund um das Osterfest, um unseren Liebsten zu sagen, wie gern wir sie haben! Jetzt ist die Zeit dafür – nicht später!

„Manchmal feiern wir mitten am Tag ein Fest der Auferstehung“, heißt es in einem Lied. Ein „Ich liebe dich!“ richtet auf, lässt Menschen sich erheben und wieder Lebensmut finden. Beim gemeinsamen Essen in Zuneigung und Verbundenheit kann Auferstehung neu geschehen – heute und an jedem Tag!

Petra Wasserbauer

Impuls zur 6. Fastenwoche: Sorgen

„Ich wünschte, ich hätte mir nicht so viele Sorgen gemacht!“

Kennen Sie das? Wochenlang sind Sie halbe Nacht wach gelegen und haben darüber nachgegrübelt, wie das geplante Vorhaben (eine Operation, ein Fest, oder was auch immer) verlaufen werde. Und jetzt, da alles gut vorbeigegangen ist, verstehen Sie gar nicht mehr, warum Sie sich im Vorfeld so viele Sorgen gemacht haben.

Menschen, die am Ende ihres Lebens zurückblicken, geht es auch so. Sie erkennen mit Wehmut, wie viel Zeit ihres Lebens sie damit verbracht haben, sich unnötig Sorgen zu machen. Aber wie können wir das Gedankenkarussell, das immer wieder in unserem Kopf im Kreis läuft, stoppen?

Ich muss Sie gleich enttäuschen. Es gibt dafür kein Patentrezept. Wieder einmal geht es um das Thema des Loslassens, von dem wir schon gehört haben, dass es uns Menschen ein Leben lang begleitet. In den letzten Jahren ist das Thema „Achtsamkeit“ in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Es gibt Achtsamkeitsseminare, in denen man lernen kann, den Augenblick bewusster zu leben. Dieses „in-der-Gegenwart-Sein“ ist sicher ein wichtiger Baustein für ein Leben ohne ständige Sorge. Wenn Sie die sorgenvollen Gedanken in sich hochkommen spüren, atmen Sie tief durch! Spüren Sie die Luft, wie sie durch Ihre Nasenlöcher strömt.

Das kommt Ihnen seltsam vor? Für uns Christ*innen ist es das einfachste Gebet. Denn Gott hat uns seinen Geist eingehaucht. Wir dürfen glauben, dass in jedem Atemzug der Geist Gottes in uns wirkt. Dazu können Sie beim Einatmen die Worte meditieren: „Geist Gottes in mir“ und beim Ausatmen „ich vertraue dir!“ Es kann eine Weile dauern bis Sie so in Ihrem Körper und in der Gegenwart angekommen sind – man könnte auch sagen: im Vertrauen zu Gott angekommen sind, dass die Sorgen und Ängste wieder ihre Macht verlieren.

Sie alle kennen das Gleichnis von den Vögeln im Himmel und den Lilien auf dem Feld, für die Gott sorgt. „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern? Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen.“, schreibt Matthäus im 6. Kapitel.

Corrie ten Boom, eine niederländische Christin, die während der nationalsozialistischen deutschen Besetzung der Niederlande eine Untergrundorganisation gründete, mit der zahlreiche Juden vor dem Holocaust gerettet wurden, brachte es so zum Ausdruck: „Sich zu sorgen nimmt dem Morgen nichts von seinem Leid. Aber es raubt dem Heute seine Kraft!“ Nur durch ihr tiefes Vertrauen konnte sie und konnten viele andere Menschen in großen Nöten zu allen Zeiten trotzdem Großes bewirken.

Das soll nicht heißen, dass unsere kleinen Alltagssorgen nicht sein dürfen oder gar, dass Gott sie nicht ernst nehmen würde. Im Philipperbrief heißt es „Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott!“ (Phil 4,6). Für mich bedeutet das, dass wir uns zwar eigentlich nicht sorgen müssen, aber dass wir immer mit unseren Bitten, mit unseren Sorgen, Ängsten, Nöten, aber auch mit unserem Dank zu Gott kommen dürfen.

In diesem zuletzt genannten „Dank“ liegt vielleicht ein kleiner hilfreicher Hinweis, um das Leben etwas sorgloser zu bestehen: Suchen Sie in ihrem Alltag so oft als möglich Dinge, für die Sie dankbar sind! Ich schreibe z.B. ein „Danke-Tagebuch“ und beginne jede Gebetszeit mit dem Auflisten der Sachen, für die ich Gott danken möchte. Zu sehen, wie viel mir schon geschenkt wurde, hilft mir zu vertrauen, dass Gott auch in Zukunft gut auf mich und meine Lieben schauen wird. Und noch ein kleiner Tipp mit Augenzwinkern: Genießen Sie die Gegenwart! Sie ist die gute alte Zeit von übermorgen!

Welche sorgenvollen Situationen haben sich zum Guten gewendet?

Wofür bin ich dankbar in meinem Leben?

Petra Wasserbauer

Impuls zur 5. Fastenwoche: Mut

„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie es andere von mir erwarten.“

Das ist einer der häufigsten Sätze, den Sterbebegleiter*innen hören. Warum fällt es uns so schwer, uns selbst zu bejahen?

Stellen Sie sich ein Puzzle vor, das alle Facetten Ihres Lebens abbildet – nicht nur Ihr Äußeres, sondern auch Ihre Persönlichkeitsanteile. Beim Zusammenbauen stoße ich immer wieder auf Puzzleteile, die ich nicht an mir mag, z.B. meine Angst, meinen Perfektionismus, meine krumme Nase, usw. Nach einer Weile würde ich mich in dem Puzzle nicht mehr wiedererkennen, weil es nur ein fragmentiertes Bild von mir ist. Oft sind es aber genau diese unliebsamen Aspekte an uns, die uns dabei helfen, anderen Menschen mit Mitgefühl zu begegnen. Wir brauchen die aus der eigenen Verletzlichkeit gewonnene Weisheit, um anderen beizustehen. Um „ganz“ zu sein – und nichts Anderes bedeuten ja die Worte „heil“ und „heilig“, müssen wir alle Teile von uns einbeziehen, akzeptieren und miteinander verbinden. Ganzheit bedeutet nicht Perfektion, sondern: nichts ausgelassen.

Die Philosophin Simone Weil sagte den klugen Satz: „Der Held trägt eine Rüstung, der Heilige ist nackt.“ Die oder der Heilige zeigt sich ganz und macht sich dadurch verwundbar; sie/er wirkt so aber auch heilsam für die Mitmenschen. Wir haben in der 3. Fastenwoche über das Thema „Vergebung“ gesprochen. Oft fällt es uns am schwersten, uns selbst zu vergeben, dass wir so sind, wie wir sind und nicht anders. Das ist der eine Aspekt des Themas: die Selbst-Annahme. An meiner Wand hängt der schöne Spruch „Mit etwas Mut kann man sein, wer man sein möchte. Mit noch etwas mehr Mut kann man sogar sein, wer man ist!“

Der 2. Aspekt ist, dass wir uns selbst treu bleiben dürfen, auch wenn wir damit die Erwartungen anderer enttäuschen. Das Wort „Ent-Täuschung“ ist für uns negativ besetzt, bedeutet aber eigentlich etwas Positives: Ich zeige eine Täuschung auf und trage dadurch zur Wahrheitsfindung bei. Die andere Person hatte vielleicht ein falsches Bild von mir. Wenn ich sie „ent-täusche“, sieht sie mehr von dem, wie ich wirklich bin. Tragfähige, gute Beziehungen halten Enttäuschungen aus und werden dadurch sogar wahrhaftiger.
Jahrhunderte lang wurde die Bibelstelle „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,39) einseitig zitiert und der erste Teil des Satzes betont. Das „wie dich selbst“ wurde unter den Tisch gekehrt. Erst in der letzten Zeit erkennt man die Wichtigkeit der Selbstfürsorge: Nur wer für sich selbst gut sorgt, kann auch für andere da sein.

Ähnlich war es mit dem Begriff der „Demut“: Oft wurde sie mit Selbstverleugnung gleichgesetzt. Mir kam kürzlich folgende Deutung unter: „Demut ist, nicht weniger von sich zu denken, sondern weniger an sich zu denken!“ Wenn ich um meine Größe weiß, wenn ich wirklich glauben kann, dass Gott mich gut geschaffen hat, dass er sich an mir freut, dann werde ich im Alltag nicht Angst haben, zu kurz zu kommen oder von anderen übersehen zu werden. Und ich werde gut für mich selbst sorgen, weil ich erkannt habe, dass Gott ein Leben in Fülle für mich will. Ich werde meine Stärken zeigen und einsetzen, anstatt mich in falsch verstandener Demut klein zu machen. Ich werde meine Meinung sagen und manchmal auch gegen gesellschaftliche Konventionen handeln, weil ich innerlich frei bin vom Urteil der anderen. Was zählt ist, was Gott von mir denkt.

Kann ich glauben, dass Gott mich gut findet, so, wie ich bin?
Welche Seit von mir versuche ich vor anderen zu verbergen?
In welchen Lebensbereichen kostet es Mut, mir selber treu zu bleiben?

Petra Wasserbauer

Impuls zur 4. Fastenwoche: Leistung

„Ich wünschte, ich hätte weniger gearbeitet!“

Dies ist eine der häufigsten Antworten auf die Frage an Sterbende, was sie in ihrem Leben bereuen.

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft: Beruf, Freizeit, Familienleben: alles ist auf Leistung und Optimierung ausgelegt. Wir machen unser Glück vom Ergebnis abhängig und vergessen dabei, dass wir auch glücklich sein dürfen, ohne es uns zu verdienen. Und wieder kommt das Thema „Loslassen“ ins Spiel, von dem wir schon in den anderen Impulsen gesprochen haben. Oft erst in Krankheit machen Menschen die schmerzliche, aber auch heilsame Erfahrung, dass ihr Leben auch lebenswert ist, wenn ihr Alltag nicht mit Aktivitäten vollgepackt ist.

Jedes Leben hat vor Gott seine eigene Würde, seinen Wert – unabhängig von unserer „Leistung“. Die Fastenzeit ist eine Einladung, das Leben wieder neu als Geschenk wahrzunehmen. Das christliche Wort dafür ist „Gnade“. Allein, dass wir atmen, dass wir jeden Morgen aufwachen, ist nicht unsere Leistung. Religionen haben Rituale, um den Geschenkcharakter unseres Lebens zum Ausdruck zu bringen. Denken wir an den arbeitsfreien Sonntag. Wir dürfen ruhen, auf unser Leben blicken und sehen, wie viel Gutes darin ist. Schon in der Schöpfungsgeschichte ist die Ruhe ein unverzichtbarer Teil. Gott schafft die Menschen am sechsten Tag und noch bevor sie einen Handgriff machen, sagt Gott quasi: „Und morgen früh, wenn ihr wach werdet, ist hier übrigens Feiertag!“ Das Erste, was sie „tun“ sollen (nämlich am 7. Tag der Schöpfung), ist ruhen, so wie es auch von Gott selbst heißt, dass er am 7. Tag ruhte. „Sechs Tage darfst du schaffen und all deine Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem HERRN, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun“, heißt es in den 10 Geboten.

Gott hat die Menschen aus der Sklaverei Ägyptens geführt, wo sie Tag und Nacht schuften mussten und will sie nun mit Hilfe der 10 Gebote davor bewahren, dass sie sich selber wieder unfrei machen, indem sie die Arbeit über alles andere stellen.

Das alte Wort für Erholung, „Rekreation“, bedeutet wörtlich „neu schaffen“. Diese Neuschöpfung geschieht, was den Körper angeht, im Schlaf, was die Seele angeht im Zustand des wachen Ruhens. Wenn wir uns für das Ruhen entscheiden, kann also Neues wachsen. Ruhen ist nicht dasselbe wie Passivität. „Das, was passiert, während man nichts tut, passiert nicht, wenn man aufs Nichtstun verzichtet“, schreibt Tomas Sjödin in dem wunderbaren Buch „Warum Ruhe unsere Rettung ist“. Beim Ruhen geht es nicht um eine „Turbo-Pause“, damit unsere Batterien schnell wieder aufgeladen sind. Es geht nicht um einen Wellness-Urlaub, den wir uns gönnen, um dann wieder voll leistungsfähig zu sein. Die Ruhe ist auch keine Belohnung, die man sich verdienen muss. Sie ist Voraussetzung für ein gesunden Leben. Anstatt vom Arbeits-Stress in den Freizeit-Stress zu wechseln, kann Ruhe bedeuten, „gute Sachen in der richtigen Reihenfolge zu versäumen“, wie es Tomas Sjödin ausdrückt.

Ich habe mir für die Fastenzeit eine „Not-to-do-List“ angelegt. Es gibt so viel, was man nicht muss, obwohl es unser innerer Antreiber einfordert. Je nach unserer Lebenssituation sind es andere Dinge, von denen wir im Alltag denken, dass wir sie tun müssen und mit etwas Besinnung erkennen, dass wir sie getrost auch sein lassen können. Ich muss nicht jederzeit erreichbar sein. Ich muss nicht bis zur Erschöpfung arbeiten. Ich muss nicht bei jeder Veranstaltung dabei sein. Ich muss nicht immer eine aufgeräumte Wohnung haben. Und so weiter.

Welche ungesunden Leistungs-Zwänge habe ich verinnerlicht?
Wie kann ich in meinem Alltag der Ruhe einen fixen Platz geben?
Welche Punkte kämen auf meine „Not-to-do-Liste“?

Petra Wasserbauer

Impuls zur 3. Fastenwoche: Vergebung

„Ich wünschte, ich hätte nicht bis zum Schluss damit gewartet!“, sagen Menschen oft am Sterbebett.

Worauf sich das nicht-bis-zum-Schluss-Warten bezieht, ist sehr unterschiedlich. Oft aber geht es darum, dass Sterbende merken, dass sie sich in ihrem Leben so an ihre Arbeit, den Besitz, bestimmte Menschen, Situationen oder Gefühle gekrallt haben, dass sie unfrei und damit unglücklich wurden. Je mehr wir im Leben das Loslassen üben, desto leichter wird das „große Loslassen“ am Ende sein. Alle großen Religionen sehen das Loslassenkönnen als das wichtigste Ziel des Lebens. Die klassischen spirituellen Disziplinen Gebet, Fasten und Almosengeben sind Einübung ins Loslassen – und damit Einübung ins Sterben. Zugleich ist Loslassen etwas sehr Lebenszugewandtes. Es ist die Bereitschaft zu Neuem. Ins Staunen kommen, Neues entdecken kann ich nur, wenn ich Altes, Liebgewordenes loslasse, nicht nur Materielles.

Und genau dazu lädt uns ja die Fastenzeit mit ihrer Aufforderung zum Verzicht ein: Nichts festhalten wollen. Sich nicht festkrallen im Haben.

Diese Woche wollen wir vor allem in den Blick nehmen, wie wir innerlich frei werden, wenn wir unseren Groll über erlebtes Unrecht loslassen. Oft kehrt man die eigene Wut, Zort, Ärger lieber unter den Teppich als sich ihnen zu stellen. Über Jahrzehnte decken wir wegen der unangenehmen Gefühle Konflikte zu anstatt sich ihnen zu stellen, unsere Wunden freizulegen und damit heilen zu lassen.

Aber spätestens am Ende des Lebens drängen sie an die Oberfläche und wollen zugelassen werden. Frank Ostaseski hat es in seiner jahrzehntelanger Hospizarbeit unzählige Male erlebt. Seine Einladung an uns, die wir mitten im Leben stehen: „Warten Sie nicht bis zum Ende damit, Ihren Groll loszulassen!“ Er zitiert Martin Luther King jr., der sagte: „Vergebung ist keine einmalige Sache, Vergebung ist ein Lebensstil.“ Vergebung meint nicht vergessen, es heißt auch nicht etwas gut zu heißen, dass mir angetan wurde. Im Gegenteil: Damit ich vergeben kann, muss ich den Schmerz zuerst zulassen und anschauen, vielleicht auch ansprechen. Dann erst kann Heilung geschehen.

Vergebung heilt uns, weil sie uns ermöglicht alten Schmerz abzulegen und sie hilft uns, uns für die Liebe zu öffnen. Es dient nicht unserem Wohl, wenn wir an unserem Schmerz festhalten. Wenn ich nachtragend bin, dann schleppe ich ja die schwere Last und trage sie dem anderen nach.

Oder in einem anderen Bild gesprochen: Sich gegen die Vergebung zu sträuben ist, als würde man sich ein Stück heiße Kohle nehmen und zu ihr sagen: „Ich lasse dich nicht los, bis du dich entschuldigst und für das bezahlst, was du mir angetan hast!“ Während wir andere strafen wollen, verbrennen wir uns selbst. Somit ist alle Vergebung Selbstvergebung. Es ist eine bemerkenswerte Form der Selbstakzeptanz, die uns ermöglicht, Schmerz loszulassen, um im Bild zu bleiben: die heiße Kohle unserer Wut, unseres Grolls loszulassen oder den schweren Stein, den wir anderen nachtragen. Was hier in ein paar Sätze abgehandelt wird, kann oft Jahrzehnte dauern.

Wenn Jesus uns auffordert, siebzigmal siebenmal zu vergeben, dann zeigt das seinen Realismus: Ein einmaliger Akt der Vergebung wird nicht reichen. Der Groll kommt immer wieder hoch, aber je öfter wir ihn wahrnehmen, zulassen, aber dann auch wieder bewusst loslassen und dem Menschen, der uns verletzt hat, innerlich Vergebung zusprechen, desto besser können unsere Wunden heilen. Dann erst werden wir frei. Warten wir damit nicht bis zum Sterbebett!

Wer hat mich in meinem Leben verletzt?
Welchen Schmerz möchte ich loslassen und einen Akt der Vergebung setzen?
Bin ich schuldig geworden und wünsche mir Vergebung?

Petra Wasserbauer

Impuls zur 2. Fastenwoche: Loslassen

„Die Verabredung in Samarra“ ist eine alte arabische Anekdote:

In Bagdad lebte ein Kaufmann, der seinen Diener auf den Markt schickte, um Vorräte zu kaufen. Nach kurzer Zeit kam der Diener zurück, weiß im Gesicht und zitternd. Er sagte: „Herr, gerade eben, als ich auf dem Marktplatz war, wurde ich im Gedränge von einer Frau angerempelt und als ich mich umdrehte, sah ich, dass es der Tod war, der mich angerempelt hatte. Sie sah mich an und machte eine bedrohliche Geste. Herr, leihe mir dein Pferd und ich werde nach Samarra reiten und dem Tod entkommen.“ Der Kaufmann lieh ihm sein Pferd und der Diener ritt davon. Am Marktplatz sah der Kaufmann dann mit eigenen Augen die Frau, die der Tod war und fragte sie: „Warum hast du meinen Diener bedroht, als du ihn getroffen hast?“ „Das war keine bedrohliche Geste.“, antwortete der Tod. „Es war ein überraschtes Zusammenzucken. Ich war erstaunt ihn hier in Bagdad auf dem Markt zu sehen, wo ich doch eine Verabredung mit ihm habe, heute Abend in Samarra!“

Diese Anekdote führt uns vor Augen, dass wir dem Tod nicht entkommen können.

Die Kunst zu leben ist immer auch die Kunst, sterben zu lernen – und umgekehrt. Beides zusammen erst macht gutes Leben aus. Jeder bewusst erlebte Augenblick, auch Abschied und schmerzhafter Verzicht, hat eine eigene wertvolle Qualität. Durch Verdrängung, Zerstreutheit und Oberflächlichkeit geht das verloren. Es geht um bewusstes Erleben. Und das kann man lernen – und üben. Der hl. Benedikt rät den Mönchen, sich jeden Tag den Tod vorzustellen und so bewusster zu leben. Der hl. Franziskus spricht im Sonnengesang von „Bruder Tod“. Vom Schweizer Mystiker Bruder Klaus (1417-1487) ist der weise Satz überliefert: „Wer nicht stirbt, eh er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.“

Die alte Kultur der Kunst des Sterbens (ars moriendi) als Kunst des Lebens (ars vivendi) hat im europäischen Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein eine große Rolle gespielt. Natürlich waren die Lebensbedingungen damals anders: Andauernde Kriege, Seuchen (Pest) und eine insgesamt kürzere Lebenserwartung ließen den plötzlichen und massenhaften Tod im Leben allgegenwärtig sein. Die Menschen wollten jedoch nicht vom Tod überrascht werden und unvorbereitet vor ihren Schöpfer treten. Deshalb gab es eine Reihe von geistlichen Ratgebern, die anleiteten, wie man sich gut auf das letzte Stündlein einstellt.

Heutzutage, so scheint es, haben wir die Endlichkeit des Lebens aus den Augen verloren. Schließlich leben wir im Durchschnitt wesentlich länger. Ganze Industriezweige sind damit beschäftigt, den Menschen bis ins hohe Alter jugendlich und fit zu erhalten. Ein Narr, wer da ans Sterben denkt! War der Tod einstmals ein vertrauter Gast in den Familien, bricht er heute als Katastrophe in das Leben ein. „Das ganze Leben lang muss man sterben lernen“, hatte schon der römische Philosoph Seneca erkannt. Aber kann man das wirklich lernen? Es geht, wenn man beizeiten damit beginnt. Und ein erster Schritt könnte sein, den Tod nicht als Super-GAU des Lebens zu sehen, sondern ihm die Stellung einzuräumen, die ihm gebührt: als Teil des Lebens. Manche „kleinen Tode“ des Lebens helfen bei der Annäherung an das Unbegreifliche. Beispielsweise der schmerzliche Abschied von einem Menschen, die bittere Trennung vom Ehepartner, die tiefe Enttäuschung über einen guten Freund oder eine durchstandene schwere Erkrankung. All diese Erfahrungen zeigen, wie zerbrechlich und endlich unser Leben sein kann.

Wen oder was musste ich schon aus meinem Leben verabschieden?
Habe ich etwas erlebt, das mich innerlich „sterben“ ließ?
Bin ich „kleine Tode“ gestorben, die mich stärker gemacht haben?

Petra Wasserbauer

Impuls zur 1. Fastenwoche: Staub

„Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst!“

So lautet in Anlehnung an Genesis 3,19 eine der gängigen Aufforderungen, die uns bei der Spendung des Aschenkreuzes zugesagt wird.

Ich konnte mit dieser Aufforderung früher nicht so viel anfangen. Das änderte sich, als im Sommer im Freibad mein Blick auf das Tattoo einer jungen Frau fiel. „Ich lebe, wofür es sich zu sterben lohnt“, war in ihre Haut tätowiert. Der Spruch ließ mich nicht mehr los. Mitten in der Hitze und Leichtigkeit des Sommers dachte ich an Aschermittwoch und dessen Erinnerung, dass wir alle einmal sterben werden. Was zählt am Ende im Rückblick auf das Leben? Wofür wollen wir leben? In der Auseinandersetzung mit dem Thema stieß ich auf verschiedene Artikel und Bücher. An meinen Erkenntnissen daraus möchte ich Sie/Euch in diesen Wochen der Fastenzeit teilhaben lassen.

Das Erstaunlichste im Leben ist, dass die Menschen wissen, dass sie sterben, und trotzdem so leben, als sei das nicht so. Psalm 90 sagt: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben werden, damit wir klug werden.“

Adelheid Rieffel ist Hospizmitarbeiterin und hat aus vielen Sterbebegleitungen intensiv für ihr eigenes Leben gelernt. Welchen Rat kann sie geben?

  • Immer wieder (Zwischen-) Bilanz im Leben ziehen und dann innerlich und äußerlich das Leben (neu)ordnen.
  • Sich die Frage stellen: Was tue ich in und mit meinem Leben und will ich das auch weiterhin so tun? Notfalls eine Kurskorrektur vornehmen, auch wenn es weh tut.

Die Vergänglichkeit ist der Zugang zu den Möglichkeiten. Wenn wir sie bejahen, finden wir wahre Freiheit! Wer sich mit der spirituellen Dimension des Abschieds befasst, begegnet dem letzten Abschied, dem Tod, später vielleicht vertrauensvoller. Wer sein Leben schon früh in einen größeren Zusammenhang stellt und seiner Seele Raum gibt für den Abschiedsschmerz, der findet einen natürlichen Umgang mit der Endlichkeit.

Wenn ich das Aschenkreuz empfange, bittet ich Gott, dass die Tage der österlichen Bußzeit für mich eine Zeit der Umkehr, der Läuterung und der geistlichen Fruchtbarkeit werden mögen. Ich bedenke den Tod, aber noch vielmehr das Leben – ein Leben, das reiche Frucht bringen soll und das von Jesus Christus zur Auferstehung gerufen wird: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“ (Johannes 11,25) – „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht.“ (Johannes 15,5).

Der Aschermittwoch und die ganze Fastenzeit erinnern daran: Wir gehen Ostern entgegen, nicht nur in einer bestimmten Zeit des Kirchenjahres, sondern immer – mit unserem ganzen Leben.

Wofür möchte ich in meinem Leben aufstehen?
Welche Früchte darf ich schon jetzt ernten?
Wo möchte ich noch etwas pflanzen?

Petra Wasserbauer

Von der Liebe zur Kirche – von Kardinal Franz König

Die Kirche lieben – ja, kann man das überhaupt?

Man redet heute oft über die Kirche, aber man denkt dabei weit weniger an die Gemeinschaft des Glaubens und des Vertrauens auf Gottes Wort, als an eine Institution, die sich für die Armen einsetzen soll und die Maßstäbe für eine moralische Ordnung innerhalb der Gesellschaft verkündet. Verbunden damit ist zumeist viel – nicht immer unberechtigte – Kritik.

Der „liebe“ Gott, seine Liebe zu uns, bleibt bei einer solchen Vorstellung im Hintergrund – und der Mensch mit seinen Fehlern im Vordergrund. Ich meine, das ist ein sehr schiefes Bild von einer Kirche, die durch das Eingreifen Gottes in die Geschichte gebaut wurde.

Die Vorstellung von einer solchen Kirche, wie wir es heute oft in den Medien vorgesetzt bekommen, fordert viele zur Kritik heraus. Das beginnt beim Papst, setzt sich fort bei den Bischöfen, den Priestern, den Gruppeninteressen und Spannungen zwischen so genannten konservativen oder progressiven Christen.

Aber merkwürdig: Jeder Kritiker spricht nur über die anderen. Er fragt sich, so scheint es, nie selbst. Wie könnte ich es besser machen, was müsste ich ändern, um der guten Sache besser zu dienen?

Liebe zur Kirche bedeutet nicht: Liebe zu einem Gebäude oder zu einer nur menschlichen Institution. Liebe zur Kirche bedeutet vielmehr: Dankbarkeit, Geborgenheit, große Wertschätzung für alles, was Gott für jeden von uns getan hat.

Liebe zur Kirche bedeutet aber auch: Nachsicht und Verzeihen, Großmut für das viele menschliche Versagen in dieser Gesellschaft. Liebe zur Kirche bedeutet weiter: Gottes Plan und Weisung aufzunehmen und – trotz aller Schwierigkeiten – durch das eigenen Leben weiterzugeben.

Liebe zur Kirche heißt ganz einfach: Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen, innerhalt der Kirche – und auch außerhalb.

(Quelle in: Gedanken für ein erfülltes Leben. Styria Verlag, 2004)

Wie wir der Zukunft ohne Angst begegnen können

Eine Rede von Rabbi Jonathan Sacks (gekürzt)

Wir haben spaltende Wahlen und gespaltene Gesellschaften erlebt. Wir haben ein Anwachsen des Extremismus in Politik und Religion erlebt, und all das wird geschürt durch Angst, Ungewissheit und Furcht vor einer Welt, die sich fast schneller verändert, als wir es ertragen können, und durch das sichere Wissen, dass sie sich noch schneller verändern wird.

Gibt es also etwas, was wir tun können, jeder von uns, um der Zukunft ohne Angst entgegensehen zu können? Ich glaube, das gibt es. Und ein Weg dorthin ist, zu sehen, dass der vielleicht einfachste Weg in eine Kultur und in ein Zeitalter darin besteht, zu fragen: Was verehren die Menschen? Die Menschen haben so viele verschiedene Dinge verehrt – die Sonne, die Sterne, den Sturm.

Im 19. und 20. Jahrhundert verehrten die Menschen die Nation, die arische Rasse, den kommunistischen Staat. Was verehren wir? Künftige Anthropologen werden sich dieses wunderbare neue religiöse Ritual ansehen, das wir geschaffen haben. Kennen Sie dieses Ritual – das so genannte „Selfie“? Und ich denke, sie werden zu dem Schluss kommen, dass das, was wir in unserer Zeit anbeten, das Selbst ist, das Mich, und das ICH.

Und das ist großartig. Es ist befreiend. Es ist ermächtigend. Es ist wunderbar. Aber – vergessen Sie nicht, dass wir biologisch gesehen soziale Lebewesen sind. Wir haben die meiste Zeit unserer Evolutionsgeschichte in kleinen Gruppen verbracht. Wir brauchen diese Interaktionen von Angesicht zu Angesicht, in denen wir jene geistigen Güter wie Freundschaft, Vertrauen, Loyalität und Liebe schaffen, die uns von der Einsamkeit erlösen. Wenn wir uns zu sehr mit dem „Ich“ und zu wenig mit dem „Wir“ beschäftigen, können wir uns verletzlich, ängstlich und allein fühlen.

Daher denke ich, dass der einfachste Weg, das zukünftige „Du“ zu schützen, darin besteht, das zukünftige „Wir“ in drei Dimensionen zu stärken: das Wir der Beziehung, das Wir der Identität und das Wir der Verantwortung.

Das Wir der Beziehung

Es war einmal, vor sehr langer Zeit, da war ich 20 Jahre alt und studierte Philosophie im Grundstudium.

Ich war selbstbesessen und durch und durch unsympathisch, bis ich eines Tages auf der anderen Seite des Hofes ein Mädchen sah, das alles war, was ich nicht war. Sie strahlte Sonnenschein aus. Sie strahlte Freude aus. Ich fand heraus, dass ihr Name Elaine war. Wir trafen uns. Wir redeten. Wir heirateten. Und 47 Jahre, drei Kinder und acht Enkelkinder später kann ich mit Sicherheit sagen, dass dies die beste Entscheidung meines Lebens war. Die Menschen, die nicht so sind wie wir, lassen uns wachsen.

Das Problem mit den Google-Filtern und den Facebook-Freunden ist, dass wir fast ausschließlich von Menschen umgeben sind, deren Ansichten genau wie die unseren sind. Und Cass Sunstein aus Harvard hat gezeigt, dass wir extremer werden, wenn wir uns mit Menschen umgeben, die die gleichen Ansichten haben wie wir. Wir müssen die persönlichen Begegnungen mit Menschen, die nicht so sind wie wir, erneuern. Wir müssen das tun, um zu erkennen, dass wir sehr unterschiedlicher Meinung sein und trotzdem Freunde bleiben können. In diesen persönlichen Begegnungen entdecken wir, dass die Menschen, die nicht so sind wie wir, einfach Menschen sind wie wir. Und jedes Mal, wenn wir jemandem, der nicht so ist wie wir, dessen Klasse, Glaube oder Hautfarbe sich von der unseren unterscheidet, die Hand der Freundschaft reichen, heilen wir einen der Risse in unserer verwundeten Welt. Das ist das Wir der Beziehung.

Das Wir der Identität

Waren Sie schon einmal in Washington? Haben Sie die Denkmäler gesehen? Absolut faszinierend. Da ist das Lincoln Memorial: die Gettysburg-Rede auf einer Seite, die zweite Antrittsrede auf der anderen. Gehen Sie zum Jefferson Memorial, dort gibt es eine Menge Text. Martin Luther King Memorial, mehr als ein Dutzend Zitate aus seinen Reden. Ich wusste gar nicht, dass man in Amerika Denkmäler liest. Gehen Sie nun zu dem entsprechenden Denkmal in London am Parliament Square und Sie werden sehen, dass das Denkmal für David Lloyd George drei Worte enthält: David Lloyd George.

Nelson Mandela bekommt zwei. Churchill bekommt nur ein Wort: Churchill.

Warum der Unterschied? Weil Amerika von Anfang an eine Nation war, die von einer Einwanderungswelle nach der anderen überschwemmt wurde, so dass es eine Identität schaffen musste, und das tat es, indem es eine Geschichte erzählte, die man in der Schule lernte, die man auf Denkmälern las und die man in den Antrittsreden der Präsidenten wiederholt hörte. Großbritannien war bis vor kurzem keine Nation von Einwanderern, so dass es seine Identität als selbstverständlich betrachten konnte.

Das Problem ist nun, dass zwei Dinge geschehen sind, die nicht zusammengehören sollten. Erstens haben wir im Westen aufgehört, die Geschichte darüber zu erzählen, wer wir sind und warum wir so sind – sogar in Amerika. Und gleichzeitig ist die Einwanderung so hoch wie nie zuvor. Wenn man also eine Geschichte erzählt und die eigene Identität stark ist, kann man den Fremden willkommen heißen, aber wenn man aufhört, die Geschichte zu erzählen, wird die eigene Identität schwach und man fühlt sich vom Fremden bedroht. Und das ist schlecht.

Ich sage Ihnen, die Juden sind seit 2.000 Jahren verstreut, zerstreut und im Exil. Wir haben unsere Identität nie verloren. Und warum? Weil wir mindestens einmal im Jahr, am Pessachfest, unsere Geschichte erzählt und sie unseren Kindern beigebracht haben, und weil wir das ungesäuerte Brot des Leidens gegessen und die bitteren Kräuter der Sklaverei gekostet haben. So haben wir unsere Identität nie verloren. Ich denke, wir müssen gemeinsam dazu zurückkehren, unsere Geschichte zu erzählen, wer wir sind, woher wir kommen, nach welchen Idealen wir leben. Und wenn das geschieht, werden wir stark genug sein, den Fremden willkommen zu heißen und zu sagen: „Komm und teile unser Leben, teile unsere Geschichten, teile unsere Hoffnungen und Träume.“ Das ist das Wir der Identität.

Das Wir der Verantwortung

Mein Lieblingssatz in der gesamten Politik ist: „Wir, das Volk“. Warum „wir, das Volk“? Weil er besagt, dass wir alle gemeinsam die Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft tragen. Und das ist es, worauf es ankommt.

Haben Sie bemerkt, wie das magische Denken unsere Politik übernommen hat? Wir sagen: Ihr müsst nur diesen starken Führer wählen, und er oder sie wird alle unsere Probleme für uns lösen. Glauben Sie mir, das ist magisches Denken. Und dann gibt es die Extreme: die extreme Rechte, die extreme Linke, die extremen Religiösen und die extremen Antireligiösen. Die extreme Rechte, die von einem goldenen Zeitalter träumt, das es nie gegeben hat, die extreme Linke, die von einer Utopie träumt, die es nie geben wird, und die Religiösen und Antireligiösen, die gleichermaßen davon überzeugt sind, dass alles, was wir brauchen, Gott oder die Abwesenheit von Gott ist, um uns vor uns selbst zu retten. Auch das ist magisches Denken, denn die einzigen, die uns vor uns selbst retten können, sind wir, das Volk, wir alle zusammen.

Wenn wir das tun, wenn wir von der Politik des Ichs zur Politik von uns allen gemeinsam übergehen, dann entdecken wir diese schönen, kontraintuitiven Wahrheiten wieder: Dass eine Nation stark ist, wenn sie sich um die Schwachen kümmert, dass sie reich wird, wenn sie sich um die Armen kümmert, dass sie unverwundbar wird, wenn sie sich um die Verletzlichen kümmert. Das ist es, was große Nationen ausmacht.

Hier ist also mein einfacher Vorschlag

Er könnte Ihr Leben verändern, und er könnte dazu beitragen, die Welt zu verändern. Führen Sie eine Such- und Ersetzungsoperation in Ihrem Text durch, und wo immer Sie auf das Wort “selbst“ stoßen, ersetzen Sie es durch das Wort „andere“. Also statt Selbsthilfe, Fremdhilfe; statt Selbstwertgefühl, Fremdwertgefühl. Und wenn Sie das tun, werden Sie die Kraft eines Satzes spüren, der für mich einer der bewegendsten Sätze in der gesamten religiösen Literatur ist. „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“ Wir können jeder Zukunft furchtlos entgegensehen, solange wir wissen, dass wir sie nicht allein erleben werden.

Lassen Sie uns also um des zukünftigen „Du“ willen gemeinsam das zukünftige „Wir“ stärken.

Rabbi Jonathan Sacks
chiefrabbi.org

Warum ein Totschlag schon etwas mit dem Kirchgang zu tun hat …

In diesem Brief macht sich Pfarrer Martin Gedanken über die heute oft fehlende Sozialisierung in Gruppen in der Kindheit und welchen Unterschied das für das spätere Zusammenleben ergeben kann.


Ich schreibe hier als ein Pfarrer einer katholischen Pfarrgemeinde. Das Glück war mit mir: In einer katholischen Familie aufgewachsen, habe ich den christlichen Glauben und die Kirche positiv erlebt. Der notwendige Kirchgang als Kind hat mir beigebracht, dass von nichts nix kommt. Dass der Glaube an Gott dann in mir wächst, wenn ich ihm Zeit schenke.

Als Jugendliche haben wir in den Jugendstunden alle Themen dieser Welt besprochen: die Todesstrafe, Suizid, Abtreibung, Atomenergie und Atomwaffen, Entwicklungshilfe für die Dritte-Welt-Länder. Wir waren oft gemeinsam unterwegs, sind zum Konzentrationslager in den Nachbarort geradelt, haben Fair-Trade-Produkte eingekauft und verkauft, haben uns im Kino „Steiner – das eiserne Kreuz“ angesehen. In der Jugendgruppe haben sich einige ineinander verliebt; andere haben einander nicht ausstehen können; es gab Ärger und Begeisterung, Neid und Gelassenheit, Dienst und Geltungssucht. In allem aber waren wir die Jugend der Pfarrgemeinde, darum gingen wir sonntags in die Kirche und zu Ostern zur Beichte.

Später bin ich selber Pfarrer geworden und ich habe das große Glück, dass es Jungschar und Jugendgruppen in der Pfarre gibt. Was ich beobachte: Die Kinder lernen, ihr Ego zurückzustellen. sie lernen es nicht von sich aus. Die Gruppe fordert es ein. Die Kinder untereinander korrigieren sich. Spätestens in der Jugendgruppe wird ausgesprochen: Du kannst dich nicht gehen lassen, du kannst deinen Emotionen nicht freien Lauf lassen. Deine Freiheit hört auf, wo der Mitmensch eingeschränkt wird.

Heute kann man es gut benennen und sagt, dass es eine Frustrationstoleranz braucht. Der Mensch „muss“ lernen, seine innere Energie in den Griff zu bekommen, zu steuern. Den guten Umgang damit nennt man dann „Sozialkompetenz“. Jede christliche Pfarrgemeinde ist ein Übungsfeld dafür. Das Miteinander von Jung und Alt; das Helfen, auch wenn die eigene Freizeit weniger wird; das Bemühen um einen freundlichen Umgangston.

Ohne Einübung kein Ergebnis. Wenn es im Leben hart auf hart kommt; wenn Fehler gemacht werden, wenn „man aus der Haut fahren möchte“, dann bewährt sich das Eingeübte. Dann ist innere Kraft da. Sie hat aber eine Quelle, die nicht menschengemacht ist. Sie hat Gott als Kern. Dieser Glaube hält mir die Hand zurück, wenn ich zuschlagen möchte. Diese Gewissheit des Glaubens streckt meine Hand aus, wenn jemand Hilfe braucht.

Wenn ich in der Zeitung lese: „Mann erschlägt Frau aus Eifersucht; Ex-Partner bedroht Familie; Familie verklagt sich gegenseitig wegen Erbe“, dann kommen mir die Jungscharstunden in den Sinn. Innerlich danke ich den vielen Ehrenamtlichen, die sich mühen mit Kindern und Jugendlichen christliche Lösungen für Konflikte zu entwerfen und die ihnen beibringen, die Frustrationstoleranz höher zu schrauben. Alleine und aus eigener Kraft ist das nicht zu schaffen. Ohne die Hilfe von oben geht das nicht. Darum gehört zum Spiel in der Gruppe auch der Kirchgang.

Pfarrer Martin Rupprecht