Impuls zur 2. Fastenwoche: Loslassen

„Die Verabredung in Samarra“ ist eine alte arabische Anekdote:

In Bagdad lebte ein Kaufmann, der seinen Diener auf den Markt schickte, um Vorräte zu kaufen. Nach kurzer Zeit kam der Diener zurück, weiß im Gesicht und zitternd. Er sagte: „Herr, gerade eben, als ich auf dem Marktplatz war, wurde ich im Gedränge von einer Frau angerempelt und als ich mich umdrehte, sah ich, dass es der Tod war, der mich angerempelt hatte. Sie sah mich an und machte eine bedrohliche Geste. Herr, leihe mir dein Pferd und ich werde nach Samarra reiten und dem Tod entkommen.“ Der Kaufmann lieh ihm sein Pferd und der Diener ritt davon. Am Marktplatz sah der Kaufmann dann mit eigenen Augen die Frau, die der Tod war und fragte sie: „Warum hast du meinen Diener bedroht, als du ihn getroffen hast?“ „Das war keine bedrohliche Geste.“, antwortete der Tod. „Es war ein überraschtes Zusammenzucken. Ich war erstaunt ihn hier in Bagdad auf dem Markt zu sehen, wo ich doch eine Verabredung mit ihm habe, heute Abend in Samarra!“

Diese Anekdote führt uns vor Augen, dass wir dem Tod nicht entkommen können.

Die Kunst zu leben ist immer auch die Kunst, sterben zu lernen – und umgekehrt. Beides zusammen erst macht gutes Leben aus. Jeder bewusst erlebte Augenblick, auch Abschied und schmerzhafter Verzicht, hat eine eigene wertvolle Qualität. Durch Verdrängung, Zerstreutheit und Oberflächlichkeit geht das verloren. Es geht um bewusstes Erleben. Und das kann man lernen – und üben. Der hl. Benedikt rät den Mönchen, sich jeden Tag den Tod vorzustellen und so bewusster zu leben. Der hl. Franziskus spricht im Sonnengesang von „Bruder Tod“. Vom Schweizer Mystiker Bruder Klaus (1417-1487) ist der weise Satz überliefert: „Wer nicht stirbt, eh er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.“

Die alte Kultur der Kunst des Sterbens (ars moriendi) als Kunst des Lebens (ars vivendi) hat im europäischen Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein eine große Rolle gespielt. Natürlich waren die Lebensbedingungen damals anders: Andauernde Kriege, Seuchen (Pest) und eine insgesamt kürzere Lebenserwartung ließen den plötzlichen und massenhaften Tod im Leben allgegenwärtig sein. Die Menschen wollten jedoch nicht vom Tod überrascht werden und unvorbereitet vor ihren Schöpfer treten. Deshalb gab es eine Reihe von geistlichen Ratgebern, die anleiteten, wie man sich gut auf das letzte Stündlein einstellt.

Heutzutage, so scheint es, haben wir die Endlichkeit des Lebens aus den Augen verloren. Schließlich leben wir im Durchschnitt wesentlich länger. Ganze Industriezweige sind damit beschäftigt, den Menschen bis ins hohe Alter jugendlich und fit zu erhalten. Ein Narr, wer da ans Sterben denkt! War der Tod einstmals ein vertrauter Gast in den Familien, bricht er heute als Katastrophe in das Leben ein. „Das ganze Leben lang muss man sterben lernen“, hatte schon der römische Philosoph Seneca erkannt. Aber kann man das wirklich lernen? Es geht, wenn man beizeiten damit beginnt. Und ein erster Schritt könnte sein, den Tod nicht als Super-GAU des Lebens zu sehen, sondern ihm die Stellung einzuräumen, die ihm gebührt: als Teil des Lebens. Manche „kleinen Tode“ des Lebens helfen bei der Annäherung an das Unbegreifliche. Beispielsweise der schmerzliche Abschied von einem Menschen, die bittere Trennung vom Ehepartner, die tiefe Enttäuschung über einen guten Freund oder eine durchstandene schwere Erkrankung. All diese Erfahrungen zeigen, wie zerbrechlich und endlich unser Leben sein kann.

Wen oder was musste ich schon aus meinem Leben verabschieden?
Habe ich etwas erlebt, das mich innerlich „sterben“ ließ?
Bin ich „kleine Tode“ gestorben, die mich stärker gemacht haben?

Petra Wasserbauer