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Die letzte Generation?

Pater Dr. Clemens Pilar COpDie Lesungstexte der letzten Sonntage im Kirchenjahr scheinen eine wirklich apokalyptische Situation darzustellen, dass alles auf ein Ende zugeht, dass die letzte Generation angebrochen ist. Dass das aber eine verkürzte Sicht der Schriftstellen ist und dass diese in Wirklichkeit hoffnungsvolle Texte sind, hat P. Clemens Pilar COp am 33. Sonntag im Jahreskreis (17.11.2024) in Schönbrunn-Vorpark aufgezeigt.


Wir wissen: Wenn die Texte der Schriftlesung in den Gottesdiensten „apokalyptisch“ werden, dann steht das Ende des Kirchenjahres kurz bevor. Obwohl das Kirchenjahr uns regelmäßig wiederkehrende Feste bereitet, werden wir durch diese Texte daran erinnert, dass die Geschichte doch auf ein Ziel und eine Erfüllung zugeht.

Wir wissen darüber hinaus, dass die ersten Christen noch in der Erwartung gelebt haben, dass sie die Vollendung der Geschichte selbst erleben und dass sie deshalb der „letzte Generation“ angehören. Eigentlich haben also wir Christen das Copyright auf diese Bezeichnung. Heute wissen wir aber auch, dass sich diese Erwartungen so nicht erfüllt haben, und deshalb geht das Leben auch nach 2000 Jahren immer noch weiter.

Freilich kann man diese apokalyptischen Texte in unterschiedlicher Weise lesen. Eine eher oberflächliche Leseweise führt dazu, dass wir etwa an Katastrophenfilme von Roland Emmerich erinnert werden. Der lässt in einem seiner Filme sogar den Mond auf die Erde fallen. Man denkt wirklich an das Weltende, vor allem wenn man die Rede vom Menschensohn hernimmt, den man auf Wolken kommen sieht… alles das stachelt die apokalyptischen Fantasien an. Nur irgendetwas stimmt an dieser Leseart offensichtlich nicht, denn Jesus sagt: „Diese Generation wird nicht vergehen, ehe all das geschieht.“ Dann muss es ja schon passiert sein. Ist es also bereits geschehen?

Tatsächlich kann man diese Texte auch anders lesen – und dann werden sie hoffnungserweckend, gerade auch für Zeiten wie jene, die wir gerade erleben. Aber dazu muss man die Symbolsprache der Bibel erschließen und den zeitlichen Kontext, in dem Jesus diese Rede gehalten hat, mitbedenken. Probieren wir das einmal aus.

Die Situation war politisch sehr angespannt. Ständig kam es zu kleineren messianischen Aufständen gegen die Römer im Land, es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer großen Explosion kommt. Das war dann ab dem Jahr 66 der Fall. In der vorangegangenen Stelle hat Jesus von dieser kommenden Drangsal gesprochen. Er hat auch klar angesagt, dass die Stadt zerstört werden wird und es am besten ist, nicht bis zum Schluss darin auszuharren, sondern rechtzeitig in die Berge zu fliehen.

Aber jetzt sagt Jesus etwas, das tröstlich ist und Hoffnung macht. Die politischen Kräfte und Mächte haben nicht das letzte Wort. Wenn Jesus hier von Sonne und Mond spricht, dann meint er nicht die Himmelskörper als solche. In der heidnischen Welt galten diese als Götter, und die Mächtigen haben sich auf diese Götter berufen. Die Sonne stand für Rom, der Mond für die Vasallenreiche, die Sterne für die „Stars“ der politischen Szene. Jesus sagt, dass diese Götter ihre Macht verlieren werden, genauso wie die Fürsten, die sich auf diese Götter berufen haben. Das sind die Sterne, die vom Himmel fallen, gefallene „Stars“ eben.

Und was hat es mit dem Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels kommen wird, auf sich? Die „Wolke“ galt schon im Alten Testament als ein Symbol für die göttliche Gegenwart. In einer Wolke hat Gott sich auf das Offenbarungszelt in der Wüste herabgelassen. Aus einer Wolke hat Gott auf dem Berg der Verklärung gesprochen. Nun spricht Jesus davon, dass der „Menschensohn“ auf einer Wolke gesehen wird, das heißt nichts anderes, als dass die Göttlichkeit des Menschensohnes offenbar wird. Wann wird das sein? Oder ist das schon geschehen? Es geschah an dem Tag und in „der Stunde“, von der niemand wusste, wann diese sein wird. Denn wenn von „der Stunde“ die Rede ist, ist die Stunde der Verherrlichung des Sohnes gemeint. Diese vollzog sich nirgendwo anders als auf Golgotha. Es war sogar ein römischer Soldat, der als Erstes dieses Bekenntnis ausgesprochen hat: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“. (Mk 15, 39)

Bald darauf wurden die „Engel“ in alle Himmelsrichtungen ausgesandt, um die Auserwählten zu sammeln. Jetzt müssen wir bedenken, dass hier nicht die Rede ist von den „Engeln des Himmels“ – von denen ist auch manchmal die Rede, nicht aber hier. Das griechische Wort Angelos bedeutet zunächst ja nur „Bote“. Tatsächlich sind nach dem Tod und der Auferstehung Jesu die Apostel, also die Boten, in die ganze Welt gesandt worden, um die Menschen in einer neuen Gemeinschaft zu sammeln.

Jetzt wollen wir zusammenfassend ein Fazit ziehen und herauslesen, welche Hoffnungsbotschaft darin enthalten ist. Die erste Hoffnungsbotschaft: Politische Reiche haben immer ihr Ablaufdatum. Selbst das römische Reich, das unbesiegbar schien, ist zusammengebrochen. Es hat sein Licht verloren. So wird es bei allen Reichen sein, egal wie bedrohlich sie sich auch gebärden. Wenn man mitten in einer großen Bedrängnis lebt, kann man sich oft gar nicht vorstellen, dass das einmal zu Ende gehen wird (so konnte sich meine Mutter, die als Jugendliche den Nationalsozialismus erlebt hat, nicht vorstellen, dass das jemals zu Ende geht. Es war alles so übermächtig, dass es unüberwindbar schien. Nach wenigen Jahre aber war der Spuk vorbei.). So wird es mit allen Reichen sein, mit allen den politischen Mächten – das gilt auch heute.

Dagegen erstrahlt die ganz andere Herrlichkeit des Menschensohnes, der am Kreuz gesiegt hat, der durch sein Sterben am Kreuz, die Hingabe seines Lebens als Sohn Gottes offenbar geworden ist. Ausgehend von ihm wird ein anderes Volk gesammelt, das sich nicht durch eine bestimmte Nationalität auszeichnet (und deshalb keinen Nationalismus kennt), weil es aus allen Himmelsrichtungen – und damit aus allen Völkern und Nationen zusammenströmt.

Für uns gilt deshalb, dass wir uns bei allen Turbulenzen in unserer Zeit, bei all dem, was auch weltpolitisch so gefährlich erscheint, einfach, so gut es eben geht, um das andere „Reich“, um das Reich Gottes kümmern. Hier gelten andere Gesetze als in der Welt. „Sucht zuerst das Reich Gottes, alles andere wird euch dazugegeben.“ – So hören wir es in der Bergpredigt. Auch wir wissen nicht, was kommt und was der Morgen bringt. Aber es könnte sein, dass wir nicht die letzte Generation sind und dass es sich lohnt, sich für eine bessere Zukunft einzusetzen und mitzuwirken an der Ausbreitung des Gottesreiches. Das freilich geschieht ruhig, unspektakulär – ganz nach der Art des Sauerteiges. Die Reiche dieser Welt werden vergehen. Was auf Gott gegründet ist, hat Bestand für immer.

 

 

Glaube und Denken

Pater Dr. Clemens Pilar COpWie wurden von Schriftgelehrten die Liebesgebote verstanden und wie sieht sie Jesus? Was wird betont und was wird übersehen? Wie fasst Jesus sie schließlich zusammen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich P. Clemens Pilar Cop in seiner Predigt am 31. Sonntag im Jahreskreis (03.11.) in Schönbrunn-Vorpark.


Das heutige Evangelium schildert uns eigentlich eine ungewöhnliche Szene. Ungewöhnlich ist nicht, dass ein Schriftgelehrter Jesus eine Frage stellt. Das kommt immer wieder vor. Aber normalerweise finden wir da immer die zusätzliche Feststellung, dass es bei diesen Gelegenheiten immer darum ging, Jesus auf die Probe zu stellen, bzw. ihn in eine Falle zu locken, um einen Grund für eine Anklage gegen ihn zu haben. Hier aber fehlt dieser Zusatz. Dieser Schriftgelehrte ist anders, er ist wirklich an der Meinung Jesu interessiert.

Und die Frage, die dieser Jesus stellt, hat damals die Schriftgelehrten wirklich beschäftigt. Traditionsgemäß hat man damals 613 Gebote und Verbote gezählt, eine Zahl, die sich aus den 365 Tagen des Jahres und der damals angenommenen Anzahl der Glieder des Menschen (248) entsprach. Vorherrschend war die Ansicht, dass das Sabbatgebot das Wichtigste sei, denn auch Gott halte den Sabbat ein. Dieses Gebot wurde als so wichtig erachtet, dass immer genauer definiert wurde, was man am Sabbat alles nicht tun durfte, damit die Sabbatruhe nicht gebrochen wird. Am Ende hat man 1521 Tätigkeiten aufgelistet, die am Sabbat verboten waren. Bei Zuwiderhandlung drohte – zumindest theoretisch – die Todesstrafe.

Der Schriftgelehrte, der da zu Jesus kam, war scheinbar mit dieser Lösung nicht zufrieden und will jetzt wissen, wie Jesus das sieht. (Zuvor hatte der Schriftgelehrte nämlich staunend wahrgenommen, wie klug Jesus anderen Schriftgelehrten gekontert hatte, die ihn tatsächlich auf die Probe stellen wollten.)

Nun, Jesus antwortet mit dem uns gut bekannten Doppelgebot der Liebe, und der Schriftgelehrte freut sich über diese Antwort, weil er offenkundig auch so dachte – anders eben als viele seiner Kollegen – und jeder freut sich, wenn seine Meinung bestätigt wird. Jesus wiederum ist auch erfreut, einmal einen Religionsspezialisten zu finden, der ihm nicht feindlich gesinnt ist. So bestätigt nun auch Jesus diesen mit den Worten: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Damit kehrt vorerst Ruhe ein.

Wir können aber nachfragen, warum Jesus diesem Schriftgelehrten bloß zugesteht, „nicht fern“ vom Reich Gottes zu sein. Warum sagt er nicht: „Du hast es gecheckt, du bist ein Sohn des Gottesreiches“? In einem Punkt lässt sich das leicht klären. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ – Wir verstehen dieses Gebot meistens nicht so, wie es im Buch Levitikus gemeint ist. Wir meinen, dass dieses Gebot eine Erkenntnis moderner Psychologie bestätigt, demnach jemand, der sich selbst nicht annehmen kann, schwerlich andere lieben kann. Darum müsse man an einem gesunden Selbstwertgefühl arbeiten. Aber zurzeit, als dieses Gebot formuliert wurde, wurde es nicht in diesem individualistischen Sinne verstanden. Gemeint war, dass man alle Volksgenossen genauso lieben soll wie die Angehörigen des eigenen Clans. Aber über die Volksgenossen hinaus war keine Liebe verlangt. Hier war also nachzubessern – das lesen wir dann im Lukasevangelium (vgl. Lk 10, 25-37). Dort klärt Jesus, dass diese Nächstenliebe alle nationalistischen Grenzen übersteigen muss. Jeder Mensch ist ein Nächster, auch dann, wenn er einer verhassten Volksgruppe angehört. Also haben wir einen Punkt, wo der Schriftgelehrte vielleicht noch lernen muss.

Aber da gibt es noch einen zweiten Punkt, der mir sehr interessant und wichtig erscheint. Wir haben in der ersten Lesung die Urform des Gebotes der Gottesliebe gehört, die Jesus dann zitiert. Leider geht das in der Liturgie so schnell, dass wir meistens den feinen Unterschied zwischen beiden Versionen nicht bemerken. Im AT heißt es, dass man Gott mit seinem ganzen Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft lieben soll. Jesus fügt einen vierten Aspekt hinzu. Er sagt, dass man Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele, mit ganzem Denken und ganzer Kraft lieben soll. Hier kommt das „Denken“ hinzu. Wörtlich ist von der „Dianoia“ die Rede, vom „Durchdenken“. Die Gottesbeziehung soll auch den Verstand miteinbeziehen. Glaube und Gottesliebe sollen reflektiert sein. Und diese Dianoia meint ein wirklich freies Denken: Stell dich deinem Glauben, deiner Gottesbeziehung. Was bedeutet es überhaupt, Gott zu lieben? Wie kann man Gott lieben? Die Gottesbeziehung ist nicht bloß eine emotionale Angelegenheit.

Der Schriftgelehrte reduziert zwar in seiner Antwort die Aspekte der Gottesliebe wieder auf drei, aber er bezieht den Verstand mit ein (er lässt die Seele weg). Scheinbar ist es dasselbe – aber der Begriff im Urtext zeigt, dass der Schriftgelehrte zwar am richtigen Weg ist, aber noch einen Schritt zu gehen hat. Er spricht nicht vom Denken, der Dianoia, sondern vom Verstand – im Griechischen steht hier das Wort „Synesis“. Der Schriftgelehrte, der der Synesis fähig ist, ist kein Fundamentalist, sondern einer, der alle Schriften genau ansieht, vergleicht und deshalb zu kritischen Deutungen fähig ist. Aber er bleibt noch ganz bei der Schrift, bei dem, was da vorliegt, er ist eben ein Schriftgelehrter, aber immerhin einer der kritischen Art. So ist er fähig, zwei unterschiedliche Schriftstellen, die eine aus dem Buch Deuteronomium, die andere aus dem Buch Levitikus zusammen zusehen und aus dem Gesamtzusammenhang zu schließen, dass da etwas wichtiger ist als das strenge Sabbatgebot. Damit ist er nicht fern vom Reich Gottes, aber es scheint, dass ein letzter Durchbruch in die Neuheit dieses Reiches noch aussteht.

Jesus ermutigt aber, das ganze Denken einzubringen. Dazu darf der Blick in die Schrift und die alten Traditionen nicht fehlen. Aber dazu kommt ein offenes Wahrnehmen des Lebens, wie es sich in der Schöpfung zeigt, wie es sich in den Begegnungen zeigt. Diese Art der Gottesliebe ist zugleich von einer tiefen Liebe zum Menschen durchdrungen und führt zu der immer neuen Frage, was dem Menschen wirklich hilft, was ihn wirklich leben lässt. Der Buchstabe des Gesetzes reicht nicht, um diese Fragen erschöpfend zu beantworten. In der Bergpredigt fasst Jesus deshalb das ganze Gesetz und die Propheten in der goldenen Regel zusammen (vgl. Mt 7, 12). Erst wer sich dieser Weite des Denkens öffnet, wird fähig, dort, wo es angezeigt ist, auch religiöse Praktiken und Regulierungen zu hinterfragen. Der Umgang Jesu mit dem Gesetz zeigt, was das bedeutet. Er schafft das Gesetz nicht ab, aber er relativiert es auf das Lebensdienliche hin.

Das Reich Gottes ist dort, wo das Gelingen des Lebens im Zentrum steht, der „Schalom“, und wo ausgehend von diesem Ziel alle Regeln formuliert werden.

Im Johannesevangelium hören wir dann, wie Jesus dieses Liebesgebot – das wir jetzt in der Formulierung des Alten Bundes gehört haben – für die Menschen des neuen Bundes neu formuliert. Für die Menschen des Neuen Bundes gibt es eigentlich kein Doppelgebot mehr, sondern nur noch eines, ein ganz neues: „Liebt einander. So wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ (Joh 13, 34) Gottes und Nächstenliebe fallen dann auch grammatisch untrennbar in eins. Zudem wird dabei deutlich, dass Gott den Anfang in der Liebe macht. Der Mensch darf empfangen und dann das Empfangene weitergeben.

Clemens Pilar COp